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Dr. Winters Kolumne

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O Sole Mio!


Liebe Freunde,
endlich, endlich, das ist nun schon das zweihundertvierte Mal, dass ich dieses wunderbare Wort sage, und ich könnte es mindestens noch einmal so viel sagen, weil mir so ist, als wäre mir ein schwerer Stein von der Brust genommen worden, endlich (da sage ich es schon wieder) werden die Tage länger und heller und wärmer. Was habe ich mit der Welt gehadert, weil es immer nur dunkel war und kalt, und man gar nicht anders konnte, als Mützen zu tragen, obwohl Mützen ihre Träger entstellen, und Kapuzen den Gesichtskreis auf ein Minimum reduzieren, sodass man sich ständig in der Gefahr von Kollisionen mit anderen Personen oder Gegenständen wie Verkehrsschildern, Baumstämmen und desorientierten Tieren befindet, was regelmäßig zu Jochbeinbrüchen, Nasenfrakturen und Ödemen im Stirnbereich führt.
Abgesehen von meinem Nachbarn, Herrn Wenzel Rettich, der nach eigener Aussage gern friert, "nichts macht mir so viel Freude wie zu frieren", sind seine Worte, denken alle Menschen so. Herr Rettich schläft ja ohne Bettdecke bei offenem Fenster, und läuft im Schneesturm in kurzen Hosen herum. Selbst mit Eisbaden hat er es schon versucht, aber als ihm nach drei Stunden immer noch warm war, hat er es dann sein lassen. Im Sommer verreist er ausschließlich in Richtung Sibirien und Ostchinesisches Meer, weil er dort in aller Ruhe weiterfrieren kann, wie er sagt.
Uns aber mit einem normalen Kälteempfinden nach Wärme lechzend zieht es an die Strände im Süden, wo die Männer wie freundliche Berlusconis aussehen, lächelnd ihrer obere Zahnreihe entblößen und ihre runden, weißen Bäuche, die in einer schwarzen Dreieckbadehose enden, vor sich hertragen. Einer aber überragt sie alle. Sein Rücken ist fett und breit und es sieht aus, als wäre er entlang des Rückgrates mit einem Reißverschluss zu öffnen und zu schließen. Er ist so groß und schwer, dass das Meer beiseite weicht, sobald er hineintritt, und ihm Platz macht, und dann wirft er sich hinein, und sein Bauch schwappt dabei in wellenartigen Bewegungen, und seine Brust aus konzentriertem Fett tut es ihm nach. Eine Frau bemüht sich seit einer halben Stunde, ihr Kleid, dass sich irgendwie nicht mehr bewegen lässt, über den Kopf zu ziehen, aber als der dicke Mann aus dem Meer kommt, und ihr seine Hilfe anbietet, weist sie ihn entrüstet zurück.
Eine Gruppe älterer Damen hat unter mehreren Sonnenschirmen Platz genommen und verbreitet lautstark den neuesten Klatsch. Dabei blicken sie auf die weißen Segelboote, die fünfhundert Meter vom Strand entfernt verankert sind, und manchmal auch auf die Brandung, die aller zwei Stunden ans Ufer rollt, und deren Wellen rauschend auf den Sand klatschen. Danach ist es wieder zwei Stunden still. In ihrer Nähe steht ein junger Mann. Er sieht aus wie eine Schaufensterpuppe, der man soeben den linken Arm wieder eingehängt hat, er hat seinen Kopf leicht angewinkelt, und sein Gesicht wirkt wie aufgemalt. Sein Begleiter zieht eine grüne Mülltonne hinter sich her, aus der heraus er kalte Getränkedosen verkauft, und die Leute reißen sie ihm aus der Hand. Wenn das so weiter geht, kann er sich schon bald eine richtige Schaufensterpuppe kaufen.
Später kommt noch eine Familie. Die Mutter und die beiden Töchter tragen dasselbe Kleid. Es ist grün und hat einen Faltenrock. Die ältere der beiden Töchter setzt sich auf ihre Liege und beginnt, ihre Augen mit einem Eyeliner zu schminken. Dabei blickt sie in einen winzigen Handspiegel, den sie in unterschiedlichen Positionen in Höhe ihrer Augen hält. Hin und wieder entfernt sie einige Härchen mit einer Pinzette und korrigiert den Verlauf ihrer Augenbrauen mit einem Farbstift. Das Ergebnis ist perfekt und es fällt ihr schwer, nicht mehr in den Spiegel zu sehen, weswegen sie nach ihrem Handy greift, um sich abzulenken. Und die Sonne prallt herab, und die Palmen konkurrieren mit den Kirchtürmen und ragen weit in den Himmel, und die Gassen bestehen aus Steinen und Licht, und die Hitze staut sich auf dem Bordstein und alle, aber auch wirklich alle schwitzen, schwitzen, schwitzen! Ist das nicht wunderbar? Deswegen, nun zum vierhundertdreißigsten Mal: Endlich! Endlich! Endlich!
Euer Doktor O Sole Mio Winter!


Bild: Torsten Reineck