Auf dem Eurovelo 3 in der Thiérache
Das Leben genießen
Mittelalterliche Wehrkirchen, Champagner und ein Versailles für Arbeiter: Das nordfranzösische Département Aisne - "Änn" gesprochen - könnte verschiedenartiger kaum sein. Nur zwei Autostunden von Paris entfernt, ist die Region touristisch wenig erschlossen. Eine Möglichkeit bietet die grüne Fahrradroute Eurovelo 3. Die Pilgerstrecke beginnt in Norwegen und führt unter anderem durch Norddeutschland, auf der Via Thiérache durch das nordfranzösische Aisne und endet nach 5.500 Kilometern in Santiago de Compostela.
Wir nutzen ab Guise ein Stück des Radwegs auf einem alten Bahndamm. Das Grenzland zu Belgien war jahrhundertelang stark umkämpft. In den schönen Dörfern beidseits der Strecke sind daher mittelalterliche Wehrkirchen überkommen. Mit ihren trutzigen Mauern und Türmen boten sie weiland Schutz für Bauern, Habe und Vieh. Heute stehen die 60 Wehrbauten im Kontrast zu der lieblichen Landschaft. Die wohl größte und schönste aus Feldstein und Klinker ist Saint Médard im Dorf Beaurain.
Unterwegs machen wir Rast bei Hélène. Sie hat in dem aufgelassenen Bahnhof von Poisy einen Garten mit Heil- und essbaren Wildpflanzen geschaffen. Für mich Großstädter ist es eine neue Erfahrung: Auf dem Tisch kredenzt sie allerlei Zubereitetes aus Pflanzen, an denen ich wohl eben achtlos vorbeigeradelt bin. Neben den vegetarischen und veganen Speisen bietet sie Kurse an, ja richtet sogar Hochzeiten aus.
Ein gewaltiger Schlosskomplex aus rotem Klinker steigt in der Ferne aus dem grünen Umland heraus: Das Familisterium in Guise entstand im 19. Jahrhundert auf Initiative und vom Geld des Ofenfabrikanten Jean-Baptiste Godin. Entgegen allem Anschein ist die bedeutendste Sehenswürdigkeit im Département kein Schloss, sondern ein grandioser Wohnkomplex für die Mitarbeiter der Fabrik. Der Fabrikant selbst wohnte zwischen den einfachen Leuten. Sein "Versailles für Arbeiter" stattete er mit einem Theater, einer Schule, einer Schwimmhalle und Gärten aus.
Laon, der Hauptort des Departements Aisne, thront auf einem 100 Meter hohen Tafelberg aus Kalkstein. Überragt wird das größte zusammenhängende Denkmalgebiet Frankreichs von der bedeutenden Kathedrale Notre Dame. Der frühgotische Bau mit fünf Türmen leitete den neuen Baustil in ganz Nordfrankreich ein. So harmonisch, wie die Kathedrale und die Altstadt erscheinen, war das Verhältnis nicht immer. Als der Bischof Gaudry den Bürgern ihre Rechte nehmen wollte, brach 1112 ein Volksaufstand aus. Das kostete dem Geistlichen das Leben, allerdings wurde die Stadt Laon in der Folge geplündert und gebrandschatzt. Beim Gang durch die Altstadt mit den historischen Bürgerhäusern, Kirchenbauten und trutzigen Wehrbauten fühle ich mich in jene Zeiten zurückversetzt...
Das Departement Aisne läge nicht in Frankreich, wenn die Wirte ihre Besucher nicht mit allerlei Köstlichkeiten verwöhnen würden. Und natürlich prickelt es in Nordfrankreich dazu: Obwohl nicht unmittelbar in der Region der Champagne gelegen, kommen rund zehn Prozent des edlen Getränks aus Aisne. In den Champagnerkellereien Pannier, Météyer oder Léveque-Dehan tauche ich in seine Geheimnisse ein. So mysteriös ist es wohl gar nicht, aber doch sehr aufwändig in der Herstellung. Die Unesco adelte das Getränk 2015 durch die Erklärung zum Welterbe. Anna Météyer verkostet ihren Champagner für uns auf ihrem Weinberg. Nicht nur wir finden Gefallen an dem perligen Gesöff. Ihre Kellerei beliefert auch das belgische Königshaus.
Schließlich stoßen wir in Condé-en-Brieg auf ein echtes Schloss. Direkt an der Route de Champagne gelegen, entstand der von einem reizvollen Park umgebene Barockbau im 18. Jahrhundert durch den Umbau eines Renaissanceschlosses. Aus den Fenstern fällt der Blick auf die Weinberge des Umlandes, im Inneren begeistern Malereien von Antoine Watteau und Jean-Baptiste Oudry. Heute befindet sich das Schloss Condé im Besitz der Familie Pasté de Rochefort, die es schrittweise sanieren lässt.
Im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und im Zweiten Weltkrieg wurde die Region von deutschen Truppen überrannt. Im Ersten Weltkrieg hielt hingegen die französische Verteidigungslinie am Fluss der Marne. Unterstützt wurde das Land von britischen und amerikanischen Soldaten. Unweit des malerischen Städtchens Chateau-Thierry erinnert das 1929 errichtete Monument Américain an die Opfer dieses Krieges. Auch Quentin Roosevelt, Pilot und Sohn des von 1901 bis 1909 amtierenden amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt, wurde hier abgeschossen.
Die Kleinstadt Chateau-Thierry liegt zauberhaft an der Marne. Direkt an der Brücke über den Fluss steht das Denkmal für den großen französischen Schriftsteller Jean de la Fontaine, der 1621 in der Stadt geboren wurde. Auch heute gehört seine Fabel von den beiden Trauben zu den bekanntesten Liebesgedichten in der französischen Literatur. L'amour, sie gehört schließlich zu Frankreich wie der Champagner!